Liebe Freundinnen und Freunde,
ich danke dafür, dass ich zu Euch an diesem 8. Mai sprechen darf. So wollte ich meine Rede beginnen. Nun mache ich es schriftlich – denn unsere Kundgebung muss ja leider ausfallen.
Der 8. Mai 1945 war für alle vernünftigen Menschen der Tag der Befreiung und sie hatten Grund zu feiern. Doch noch heute sagen viele Leute Zusammenbruch, Kapitulation, Niederlage, wenn sie den 8. Mai meinen. Und das stimmt für diese Leute ja auch. Jedenfalls war der 8. Mai keine Stunde null. Denn viele, die noch im Frühjahr den Nazis folgten, haben sich offensichtlich nicht geändert.
Furchtbare Verbrechen geschahen noch in den letzten Wochen vor Kriegsende. Der 19-jährige Wehrmachtsgefreite Willi Herold hat sich mit einer Hauptmannsuniform bekleidet, ist in das mit etwa 3000 Gefangenen überbelegte KZ Aschendorfer Moor eingedrungen und hat das »Kommando« übernommen. Er und seine kleine, aus versprengten Soldaten gebildete Einheit ermordeten in den nächsten Tagen ab dem 11. April Hunderte Gefangene. Einheiten wie diese gibt es Hunderte, viele haben sich als „Standgerichte“ formiert und bringen schätzungsweise 8000 „Deserteure“ um.
Die Anzahl der auf den Todesmärschen und bei den zahlreichen weiteren Kriegsendverbrechen zu Tode gekommenen Menschen ist nicht bekannt. Die Schätzungen dazu bewegen sich weit auseinander. Am 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, am 27. Januar 2005, führte Prof. Arno Lustiger im Deutschen Bundestag aus: »Zwischen November 1944 und Mai 1945 wurden etwa 700.000 Häftlinge, 200.000 von ihnen Juden, bei der Räumung und Liquidierung der KZs in Polen und Deutschland, auf etwa hundert Todesmärsche durch ganz Deutschland getrieben. Es wird geschätzt, dass über die Hälfte von ihnen umgekommen ist. Sie wurden erschossen, in Scheunen verbrannt, sind verhungert oder an Seuchen verstorben. Bis heute gibt es keine Gesamtdarstellung dieser sich auf Deutschlands Straßen abspielenden tausendfachen Tragödien, dieser letzten Konvulsionen des untergehenden Dritten Reiches.“
Esterwegen 2020: Rede von Ulrich Sander (die er nicht vor Ort halten konnte) weiterlesen »