Esterwegen 2020: Rede von Ulrich Sander (die er nicht vor Ort halten konnte)

11. Mai 2020

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich danke dafür, dass ich zu Euch an diesem 8. Mai sprechen darf. So wollte ich meine Rede beginnen. Nun mache ich es schriftlich – denn unsere Kundgebung muss ja leider ausfallen.

Der 8. Mai 1945 war für alle vernünftigen Menschen der Tag der Befreiung und sie hatten Grund zu feiern. Doch noch heute sagen viele Leute Zusammenbruch, Kapitulation, Niederlage, wenn sie den 8. Mai meinen. Und das stimmt für diese Leute ja auch. Jedenfalls war der 8. Mai keine Stunde null. Denn viele, die noch im Frühjahr den Nazis folgten, haben sich offensichtlich nicht geändert.

Furchtbare Verbrechen geschahen noch in den letzten Wochen vor Kriegsende. Der 19-jährige Wehrmachtsgefreite Willi Herold hat sich mit einer Hauptmannsuniform bekleidet, ist in das mit etwa 3000 Gefangenen überbelegte KZ Aschendorfer Moor eingedrungen und hat das »Kommando« übernommen. Er und seine kleine, aus versprengten Soldaten gebildete Einheit ermordeten in den nächsten Tagen ab dem 11. April Hunderte Gefangene. Einheiten wie diese gibt es Hunderte, viele haben sich als „Standgerichte“ formiert und bringen schätzungsweise 8000 „Deserteure“ um.

Die Anzahl der auf den Todesmärschen und bei den zahlreichen weiteren Kriegsendverbrechen zu Tode gekommenen Menschen ist nicht bekannt. Die Schätzungen dazu bewegen sich weit auseinander. Am 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, am 27. Januar 2005, führte Prof. Arno Lustiger im Deutschen Bundestag aus: »Zwischen November 1944 und Mai 1945 wurden etwa 700.000 Häftlinge, 200.000 von ihnen Juden, bei der Räumung und Liquidierung der KZs in Polen und Deutschland, auf etwa hundert Todesmärsche durch ganz Deutschland getrieben. Es wird geschätzt, dass über die Hälfte von ihnen umgekommen ist. Sie wurden erschossen, in Scheunen verbrannt, sind verhungert oder an Seuchen verstorben. Bis heute gibt es keine Gesamtdarstellung dieser sich auf Deutschlands Straßen abspielenden tausendfachen Tragödien, dieser letzten Konvulsionen des untergehenden Dritten Reiches.“

Heute wissen wir: Die Erinnerungsarbeit der Opferverbände zu diesen Kriegsendverbrechen, auch der VVN, setzte früh ein, jene der Behörden und Bildungseinrichtungen sehr spät. In beiden deutschen Staaten blieb die Mitschuld der kleinen Leute zumeist unbeachtet. In der Erinnerungsarbeit an die Todesmärsche lag allerdings die DDR vorn, das geht aus den Büchern zu den letzten Kriegsmonaten hervor.

Allerdings ist sehr lange unbekannt geblieben, in beiden deutschen Staaten, dass es die Mitschuld vieler „guter“ Deutscher an den Kriegsverbrechen gab. Es lag die Furcht vor dem vor, was ein Wilhelm Brinkmann aus Dortmund-Aplerbeck geschrieben hat. Er berichtete seiner Frau im April 1944 von der „Partisanenjagd“ und vom Verschleppen von Zivilisten. „Ich habe viel Elend und manche Träne gesehen. Wenn der Krieg verloren gehen sollte, dann sehe ich sehr schwarz, denn die anderen machen es ebenso.“ Es waren unsere lieben Nachbarn, von denen viele von der Frage getrieben handelten: Wenn die ehemaligen Gefangenen nun uns das antun, was wir ihnen und ihren Landsleuten antaten – dann gnade uns Gott.

Der Förderverein Steinwache / Internationales Rombergparkkomitee und die Dortmunder VVN-BdA haben über das Kriegsende ihr Buch „Mörderisches Finale – NS-Verbrechen bei Kriegsende“ in einer erweiterten Ausgabe neu herausgegeben (bei PapyRossa). Es galt, das Unwissen über die Tage vor dem 8. Mai zu beenden.

Im April 1945 besetzen Briten und US-Amerikaner das heutige Niedersachsen und das heutige Nordrhein-Westfalen. Sie kamen oft zu spät; unzählige Häftlinge und Zwangsarbeiter sind zuvor von der Gestapo ermordet worden. Die Nazis befürchteten einen Aufstand der Linken und der Ausländer, und dem wollten sie zuvorkommen.

Nachdem am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands erfolgt war, nahmen in den Städten oftmals Sozialdemokraten, Kommunisten und parteilose Arbeiter als Mitglieder Antifaschistischer Bündnisse ihre Arbeit auf. Es waren die Männer und Frauen „der ersten Stunde“. Doch sie waren nicht wohl gelitten. Schon am 18. Mai 1945 wurden z.B. „Bekanntmachungen für Groß-Dortmund“ herausgegeben. Die Militär-Regierung der Besatzungsmächte gab bekannt: „Antifa – Diese Organisation ist gesetzwidrig und verboten. Sie hat keine Berechtigung, Verordnungen zu erlassen, Versammlungen abzuhalten, Gelder einzuziehen oder Mitglieder anzuwerben.“ Doch die SPD und KPD warteten weiter auf ihre Zulassung. Einzelne ihrer Mitglieder wurden in den Vorstädten vorübergehend Bezirksbürgermeister. Von Anfang an wurden Antifaschisten von Ämtern ferngehalten, und alte Nazis bekamen eine neue Perspektive.

Der „Führer“ sah es voraus. Adolf Hitler hat in seinem Testament vom 29. April 1945 kurz vor seinem Selbstmord das „Opfer unserer Soldaten“ als Kraftquell dafür bezeichnet, dass „in der deutschen Geschichte so oder so einmal wieder der Samen aufgehen (wird) zur strahlenden Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung und damit zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft.“ Josef Goebbels, der NS-Propagandachef, wusste gar, wann das sein wird. Er schrieb am 25. April 1945 in sein Tagebuch für die Zeit eines bolschewistischen Sieges: „… in fünf Jahren spätestens wäre der Führer eine legendäre Persönlichkeit und der Nationalsozialismus ein Mythos.“

Schon nach dem ersten Weltkrieg schrieb Erich Kästner: „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten / zum Glück gewannen wir ihn nicht.“ Das gilt auch für den zweiten Weltkrieg. Der wurde aber offenbar nicht mit einer wirklich immer währenden Niederlage Deutschlands beendet. Der „Samen“ (Hitler) und „Mythos“ (Goebbels) wird heute wieder beschworen. Der faschistische Führer der AfD Björn Höcke sieht bereits das Feuer des Faschismus sich neu entfachen: „Wir werden auf jeden Fall alles tun, um aus dieser Lebensglut, die sich unter vierzig Jahren kommunistischer Bevormundung erhalten hat und der auch der scharfe Wind des nachfolgenden kapitalistischen Umbaus nichts anhaben konnte, wieder ein lebendiges Feuer hervorschlagen zu lassen.“ (lt. Süddeutsche Zeitung, 27. März 2020) Nicht so salbungsvoll hatten sich im Herbst 1944 die Vertreter der SS und großer Konzerne auf einem Geheimtreffen in Straßburg ausgedrückt: Wir legen eine Kasse an, damit die Fortführung der Nazi-Partei eine Perspektive hat. Noch reicht Höcke nicht der Deutschen Bank die Hand – oder umgekehrt. Doch wenn die umfassende Krise anders nicht überwunden werden kann, ist auch das Bündnis der ökonomischen Eliten mit den Rechtsaußen wieder denkbar.

Was steht diesem „lebendigen Feuer“ Höckes entgegen? Hoffentlich vieles. Der drohenden Brandstiftung von rechts muss begegnet werden. Allerdings sind die demokratischen Feuerwehren zu Zeit geschwächt, und niemand weiß, wie es wirklich weitergehen soll. Die Corona-Krise ist das alles überlagernde Problem. Und dass sie zusammenfällt mit einer tiefgehenden ökonomischen Krise, die nicht nur Corona geschuldet ist, mit der weltweiten Energiekrise und Klimakrise und der Krise der internationalen Beziehungen mit ihren drohenden Kriegsgefahren und der Migrationsfrage, das macht ein ungeheures Konglomerat von Gefahrenquellen aus. Da lohnt es sich, auf die Zeit zwischen den Weltkriegen zurückzublicken.

Wann war der Zweite Weltkrieg unaufhaltbar? Er war unaufhaltbar, als Hitlerdeutschland sich stark genug sah, die Welt in Brand zu setzen. Aber wann war die Macht der deutschen Faschisten aufhaltbar? Erich Kästner sagte am 10. Mai 1958 in Hamburg bei der Tagung des PEN Deutschland: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.“

Ich würde das Datum, da der Schneeball zu rollen begann, aber doch noch aufhaltbar war, und zwar durch eine kluge, hellwache demokratische Gesellschaft, die es in den zwanziger Jahren jedoch nicht gab, auf den Tag ansetzen, der kein Wahltag, sondern ein Zahltag war. Es war spätestens der Tag, da Vertreter der ökonomischen Eliten sich mit Hitler verbanden. Sehr früh waren Thyssen und Vögler dabei. Noch früher Emil Kirdorf. Der führende Industrielle der Kohle- und Stahlindustrie traf am 27. April 1927 mit Hitler zusammen, dieser referierte ihm sein Programm und Kirdorf zahlte eine dicke Spende, vor allem aber verbreitete er Hitlers interne Denkschrift „Der Weg zum Wideraufstieg“ unter den Industriellen und warb unter ihnen für die Nazis. Fünf Jahre später beim Industrieellentreffen im Düsseldorfer Industrieclub, da war das Bündnis perfekt. Das Programm der Nazis „Vernichtung des Marxismus“ und Wiederaufstieg mit militärischen Mitteln, das passte den Herren.

Viele von uns sind vorbildlich im Gedenken an die Opfer – ich nenne die regelmäßigen Gedenkkundgebungen an den Stätten des ehemaligen faschistischen Grauens wie hier. Ich denke an die Stolpersteine. Doch dem steht entgegen die Verweigerung der Mahnung vor den Tätern, den Tätern aus den ökonomischen Eliten, die es neben den Militaristen, Junkern. bürgerlichen Völkischen und rechten Konservativen gab.

Hier äußert sich die Scheu, die kapitalistischen Schuldigen beim Namen zu nennen. Die Scheu vor der Kapitalismuskritik. Diese ist aber unerlässlich.

Was tun in der heutigen Krise?

Man hat die gegenwärtige tiefe Krise als die schwerste seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Die Kanzlerin selbst gab diese Einschätzung heraus. Da sind wir gut beraten nachzuschauen, was nach 1945 zur Überwindung der Krisenfolgen ausgesagt und getan wurde. Die Kanzlerpartei CDU schrieb in ihr erstes Parteiprogramm, das Ahlener Programm vom Februar 1947: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“. An die Stelle des Kapitalismus gelte es, „eine gemeinwirtschaftliche Ordnung“ zu setzen. „Die neue Struktur der deutschen Wirtschaft muss davon ausgehen, daß die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist.“ Ähnliche Aussagen aus jener Zeit sind von der SPD überliefert. Und von der KPD.

Ich bin sicher, dass die Mehrzahl der Bürger, vielleicht auch der christlich-sozialen, nach dieser größten Krise seit 1945 zu ähnlichen Schlüssen kommen sollte: Der Kapitalismus wird den Lebensinteressen der Menschen nicht gerecht. Auf Schildern, die zum Lobe der Angehörigen des Gesundheitswesens von Balkonen gezeigt wurden, stand ganz schlicht: Die Krankenschwestern und -pfleger nicht nur loben, sondern besser bezahlen! Und der Wirtschaftsminister sagte in einer Talkrunde: Wir werden nicht umhin kommen, als Staat Teile der Wirtschaft aufzukaufen.

Prof. Uli Paetzel, Chef von Emschergenossenschaft und Lippeverband, sagte der Westfälischen Rundschau am 15. April 2020: „Bestimmte Felder der öffentlichen Daseinsvorsorge dürfen wir nicht dem Markt überlassen. Das wird eine der entscheidenden Lehren aus der Corona-Krise sein.“ Ja, es muss nichtkapitalistische Lösungen geben. Es muss planwirtschaftliche Lösungen geben. Paetzel fordert einen regelrechten „Infrastruktur-Sozialismus“, so im Gesundheitswesen, bei der Wasserwirtschaft, auf dem Energiesektor, dem Mobilitäts- und Verkehrssektor und bei der Digitalisierung, – und ich füge hinzu: weitestgehend auch in der Wohnungswirtschaft. Die Losung „Privat vor Staat“ wird wohl bald niemand mehr in den Mund nehmen. Das hoffe ich.

Im Godesberger SPD-Programm vom November 1959 stand (und das nahm Abschied vom Sozialismus): Soviel Plan wie nötig, soviel Markt wie möglich. Doch die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln blieb unbeantwortet. Die DGB-Gewerkschaften stellten in ihrer Programmatik fest: Es erfolgte die Wiederherstellung der alten Besitz- und Machtverhältnisse. Weshalb die Veränderung dieser Verhältnisse stets in der gewerkschaftlichen Programmatik Bestand hatte. Und es gab keine Bundes- oder Landesverfassung, die nicht Sozialisierungs- und Antikriegsaussagen trafen.

Welche Schlüsse auch immer nach der Krise gezogen werden: Das antikapitalistische Denkverbot muss beseitigt werden. Schluss mit den Denkverboten, die von den Herrschenden – und hier besonders von den Verfassungsschutzämtern – verordnet werden. Der bayerische Verfassungsschutz schwingt sich zu einem verfassungsgebenden Verein auf, und manche Finanzämter in ganz Deutschland folgen ihm und verweigern Antifaschisten die Förderungswürdigkeit und Gemeinnützigkeit, weil sie den Kapitalismus in Frage stellten, der wider besseres Wissen zum Bestandteil des Grundgesetzes umgefälscht wird. Wir sagen: Der Kapitalismus muss nicht zum Faschismus führen, aber bei uns ist es geschehen, und es kann wieder geschehen. Dagegen wappnen wir uns, indem wir alle Grund- und Menschenrechte verteidigen, die Demokratie und den Frieden.

Das Vermächtnis des Widerstandes sollte uns Verpflichtung sein. Es wird im Schwur der Häftlinge von Buchenwald ausgedrückt: Den „Kampf erst einzustellen, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht“ – also auch die Verantwortlichen aus der Industrie. „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung“ – also auch der ökonomischen Wurzeln und der ideologischen und militärischen. „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Ulrich Sander, Bundessprecher der VVN-BdA