50 Jahre Berufsverbote – Gespräch mit Silvia Gingold
11. Januar 2022
»Diese Erfahrung treibt mich an«
Die Sammelwut des Verfassungsschutzes zeigt, dass der »Radikalenerlass« von 1972 bis heute nachwirkt. Ein Gespräch mit Silvia Gingold Von Markus Bernhardt
Die Einführung des sogenannten Radikalenerlasses in der BRD jährt sich am 28. Januar zum 50. Mal. Wie erinnern Sie sich an die damalige Zeit?
Meine politischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter und ich befürchteten, dass mit dem »Radikalenerlass« in erster Linie Marxisten, Mitglieder der DKP und anderer linker Organisationen getroffen werden sollten. Es hat dann jedoch unsere Vorstellungskraft übertroffen, dass die massenhafte Überwachung und Bespitzelung von Menschen, die irgendwann einmal durch ihre kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Missständen aufgefallen sind, ein solches Ausmaß annehmen würde. Der Geist der 68er-Bewegung, Fragen nach der Nazivergangenheit von Politikern, Juristen, Lehrern und Hochschullehrern sowie zunehmende kapitalismuskritische und marxistische Ideen angesichts der ökonomischen Krise wurden als »verfassungsfeindlich« kriminalisiert, junge Menschen wurden eingeschüchtert, um demokratisches Engagement zu verhindern.
Wolfgang Abendroth stellte auf der internationalen Konferenz gegen die Berufsverbote in Darmstadt 1979 fest: »Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein politisches Überwachungssystem, wie es in dieser Perfektion und in diesem Umfang in keiner anderen bürgerlichen Demokratie besteht, noch nicht einmal in den Vereinigten Staaten, etwa in der Zeit des Kalten Krieges. Das Bundesverfassungsschutzamt kombiniert millionenfach Zählkarten und Akten über fast jedermann, der irgendwann einmal kritisch im politischen Leben aufgetaucht ist«. Und der französische Publizist Alfred Grosser sagte 1975 in der Frankfurter Paulskirche: »Wenn man die Nürnberger Judengesetze als normales Recht trocken ausgelegt hat, durfte man Staatssekretär im neuen Rechtsstaat werden. Wenn man die Gestapo polizeirechtlich gerechtfertigt hatte, durfte man in der freiheitlichen Grundordnung Rektor und Kultusminister werden. Die Kriterien, die nun verbieten sollen, Zollbeamter oder Dorfschullehrer zu werden, scheinen mir wahrlich strenger zu sein.«
Sie selbst gerieten unter anderem aufgrund ihres antifaschistischen Engagements ins Visier der Behörden und wurden aus dem hessischen Schuldienst entlassen. Was haben die Behörden damals gegen Sie ins Feld geführt?
Eine Einladung zu einem »persönlichen Gespräch« ins Regierungspräsidium Kassel 1974 nach vierjähriger Unterrichtstätigkeit offenbarte sich mir als Gesinnungsüberprüfung. Dort konfrontierte man mich mit »Erkenntnissen« des Verfassungsschutzes, die dieses Amt seit meinem 17. Lebensjahr über mich gesammelt hatte.
Hier geht es zum Artikel in der jW: https://www.jungewelt.de/artikel/418228.50-jahre-berufsverbote-diese-erfahrung-treibt-mich-an.html