Rede von Jörg Meinke auf der Mahnkundgebung zum Antikriegstag in Esterwegen

3. Oktober 2021

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freundinnen und Freunde!

Der 1. September ist als Antikriegstag ein Tag der Erinnerung und der Mahnung, und der 8. Mai ist ebenfalls ein Tag der Erinnerung und der Mahnung. Die Deutsch- Niederländische Initiative 8. Mai hat sich für ihre Gedenkveranstaltungen den Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg gewählt. Wir führen unsere Veranstaltungen hier auf der Begräbnisstätte Esterwegen seit 35 Jahren durch. In diesem Jahr war, wie auch schon im letzten Jahr, wegen der Einschränkungen durch die COVID-19-Pandemie nur eine Veranstaltung im kleinen Kreis möglich. Deshalb haben wir gerne wieder das Angebot angenommen, gemeinsam mit dem DGB eine Veranstaltung zum Antikriegstag durchzuführen. Die Gründe für unsere Veranstaltungen – zum Tag der Befreiung sowie zum Antikriegstag – sind ja weitgehend die gleichen. Wir erinnern heute an den Beginn des zweiten Weltkriegs und mahnen, alles für den Erhalt des Friedens zu tun. Am 8. Mai feiern wir die Befreiung von Faschismus und Krieg und mahnen, alles gegen eine neue Rechtsentwicklung zu tun, die wieder in einen Krieg führen würde. Wir teilen mit dem DGB das grundsätzliche Engagement für Frieden und gegen Rechtsextremismus. Es liegt also nahe, diese Veranstaltung heute gemeinsam zu gestalten.

Die Initiative 8. Mai hat ihre Wurzeln in der Friedensbewegung und in der antifaschistischen Bewegung. Unser Logo besteht deshalb aus dem roten Winkel, mit dem die politischen Häftlinge in den Konzentrationslagern gekennzeichnet waren, und der Friedenstaube. In unserer Gruppe arbeiten Menschen zusammen, die sich besonders in diesen Bereichen engagieren, aber auch in verschiedenen anderen gesellschaftlichen Bereichen aktiv sind, z. B. in Gewerkschaften, Vereinen und Parteien.

Seit 1986 führen wir hier auf der Begräbnisstätte Esterwegen Veranstaltungen zum 8. Mai durch. Es gab hier bereits in den Jahren davor Veranstaltungen, die noch von den ehemaligen Häftlingen der Emslandlager, den Moorsoldaten selbst vorbereitet und durchgeführt wurden. Nach der Gedenkfeier zum 40. Jahrestag der Befreiung beschloss das Moorsoldaten-Komitee, die Verantwortung für die Veranstaltungen an die nächste Generation weiterzugeben. Zu der Zeit gab es eine starke Friedensbewegung. Viele Menschen engagierten sich gegen Hochrüstung und Kriegsvorbereitung. Auch die Moorsoldaten waren Teil der Friedensbewegung, sie kannten schließlich den Zusammenhang zwischen Faschismus und Krieg. So bildete sich aus einem Kreis aktiver Mitglieder der Friedensbewegung die Initiative 8. Mai, die von den Moorsoldaten eine Aufgabe übernommen und die Tradition bis heute fortgesetzt hat.

Warum sind wir eine deutsch-niederländische Initiative? Die Friedensbewegung der 1980er Jahre war international. Es gab niederländische und deutsche Friedensinitiativen, und hier im Emsland und im westlichen Ostfriesland gab es eben auch eine deutsch- niederländische Gruppe, die beiderseits der Grenze viele gemeinsame Aktionen durchgeführt hat. Und diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit hat auch Wurzeln in der Arbeiterbewegung. In den Grenzregionen gab es in der Zeit vor 1933 vielfältige Kontakte zwischen niederländischen und deutschen Arbeiterorganisationen. Diese Kontakte wurden während des Faschismus genutzt, um Verfolgten aus dem Deutschen Reich die Flucht in die Niederlande zu ermöglichen. Die großartige Solidarität der niederländischen Helferinnen und Helfer hat vielen Menschen das Leben gerettet. Auch deshalb setzen wir gerne die Tradition der deutsch-niederländischen Zusammenarbeit fort. Das prägt auch unsere Gedenkveranstaltungen. Wir legen großen Wert auf den internationalen Charakter. Das beschränkt sich nicht auf die Teilnahme von Menschen aus unserem Nachbarland, sondern es sind immer niederländische Rednerinnen und Redner vertreten. Unsere Veranstaltungen werden deshalb auch zweisprachig abgehalten. Im Mittelpunkt unseres Gedenkens stehen aber die Betroffenen, die Moorsoldaten. Die sind in früheren Jahren, solange es noch möglich war, selbst zu Wort gekommen. Inzwischen haben deren Kinder und Enkel die Aufgabe übernommen. Dabei geht es nicht darum, immer wieder über Leben und Wirken bekannter Persönlichkeiten zu berichten. Uns interessieren auch die Schicksale der vielen Häftlinge, über die bisher niemand gesprochen hat. Sie alle haben durch ihren Widerstand ihren Beitrag zur Überwindung des Nazi-Regimes geleistet.

Aber natürlich beziehen wir uns auch auf die prominenten Häftlinge der Emslandlager. Wir stehen hier vor dem Gedenkstein für Carl von Ossietzky, der für unsere Initiative eine besondere Rolle spielt. In ihm vereint sich der konsequente Kampf für den Frieden mit dem Widerstand gegen den Faschismus auf besondere Weise. Als Träger des Friedensnobelpreises war er international bekannt und viele Menschen erfuhren von seinem Schicksal und den Leiden in den Konzentrationslagern. Im KZ Esterwegen hat er zu einem Mithäftling gesagt: „Ein Deutschland, das an uns denkt, wird ein besseres Deutschland sein.“ Wir denken an ihn, aber wir würden ihm und allen anderen Moorsoldaten nicht gerecht, wenn wir es bei der Erinnerung an die erlittenen Qualen beließen. Wir dürfen seine Hoffnung, die er in die Zukunft gesetzt hat, nicht enttäuschen. Sein Vermächtnis zu erfüllen heißt für uns, dieses Land wirklich zu einem besseren Land zu machen, heißt, sich in seinem Sinne gegen Militarisierung und Rüstung, gegen Nationalismus und Rechtsextremismus zu engagieren.

Die Grundlage für einen Neuanfang wurde am 8. Mai 1945 geschaffen. Nach dem Ende von Krieg und Nazi-Terror war der Weg in eine bessere Zeit geebnet. Aber schon bald wurde klar, dass das Land zwar vom Faschismus befreit war, aber nicht von den Faschisten. Die Organisationen der Arbeiterbewegung waren von den Nazis zerschlagen und viele Funktionäre ermordet worden. Bevor diese Strukturen neu aufgebaut werden konnten, hatten viele der alten Nazis bereits wieder entscheidende Stellen in Politik, Verwaltung und Justiz besetzt. Der Kalte Krieg brachte wieder die Konfrontation gegen die Sowjetunion, und so dauerte es auch nicht lange, bis mit Hilfe ehemaliger Wehrmachtsoffiziere die Bundeswehr aufgebaut wurde. Eine Reaktion auf die Gründung der Bundeswehr ist der Antikriegstag. Seit 1957 ruft der DGB regelmäßig zu Aktionen am 1. September auf.

Es gab Widerstand gegen die Militarisierung, der uns über einen langen Zeitraum vor neuen Kriegen bewahrt hat. Über die Massenbewegung gegen die Remilitarisierung in den 1950er Jahren wissen wir heute leider nur wenig. Die Ostermarsch-Bewegung in den 1960er und 1970er Jahren hat schließlich zur Entspannungspolitik geführt, und die Friedensbewegung der 1980er Jahre hat in der breiten Öffentlichkeit für eine antimilitaristische Stimmung gesorgt.

Aber seit den 1990er Jahren gibt es leider eine gegenläufige Entwicklung. Die Aktivitäten der Friedensbewegung haben nachgelassen, und gleichzeitig sehen wir eine zunehmende Militarisierung der Gesellschaft. Das geht so weit, dass die Bundeswehr in Schulen auftritt und unter jungen Menschen Werbung für ihre Kriegsmaschinerie macht. Soldaten haben in Schulen nichts zu suchen! Es gehört zu unseren Aufgaben, allen Erscheinungsformen von Militarismus überall entgegenzutreten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit dem Antikriegstag erinnern wir an den Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen war die Vorbereitung auf das von den Nazis so genannte „Unternehmen Barbarossa“. Am 22. Juni 1941 begann ein Feldzeug, der von vornherein als Vernichtungskrieg geplant war. In seinem Verlauf wurden in der Sowjetunion fast 2.000 Städte und über 70.000 Dörfer von der Wehrmacht vollständig zerstört, 27 Millionen Menschen fanden den Tod.

Und 80 Jahre nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion müssen wir feststellen, dass der deutsche Imperialismus seine Pläne nie aufgegeben hat. Die Panzer der Bundeswehr stehen heute dort, wo vor 80 Jahren die Panzer der Wehrmacht Richtung Moskau rollten. Die Ära der Entspannungspolitik ist vorbei, die deutsche Außenpolitik wird zunehmend aggressiv. Von Politikern und Medien werden wir darauf eingeschworen, Russland als unseren Feind zu betrachten. Die Stimmung wird immer weiter aufgeheizt. Was mit Wirtschaftssanktionen beginnt, soll schließlich in militärische Aktionen münden. Wozu brauchen wir sonst die immense Steigerung der Rüstungsausgaben? Wozu brauchen wir die Atomwaffen, die in Büchel stationiert sind? Carl von Ossietzky hat es einmal so zusammengefasst:

„Der Krieg ist ein besseres Geschäft als der Friede. Ich habe noch niemanden gekannt, der sich zur Stillung seiner Geldgier auf Erhaltung und Förderung des Friedens geworfen hätte. Die beutegierige Canaille hat von eh und je auf Krieg spekuliert.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Feststellung bringt es auf den Punkt: Wer Krieg vorbereitet, will ihn auch führen. Der Kapitalismus sucht nach Auswegen aus der Krise, und Krieg ist eine der möglichen Strategien. Die Vorbereitungen dazu werden konkret. Die NATO hat sich an der Grenze zu Russland in Stellung gebracht. Aber ein Krieg gegen Russland würde nicht lokal begrenzt bleiben, er würde nicht nur in Russland stattfinden. Deutschland würde als Aufmarschgebiet auch zwangsläufig zum Kriegsgebiet werden. Und der dritte Versuch der imperialistischen Osterweiterung würde für uns nicht glimpflicher verlaufen als die beiden vorher.

Nach dem Abzug der Truppen aus Afghanistan hat US-Präsident Joe Biden erklärt, die „Ära großer Militäroperationen“ gehe zu Ende. Das hat er vermutlich nicht so gemeint, wie wir es gerne verstehen würden. Aber Verteidigungsministerin Annegret Kramp- Karrenbauer hat dem sofort widersprochen. Sie hätte den Bundeswehreinsatz in Afghanistan gerne fortgesetzt und beklagt die Abhängigkeit von den USA in militärischen Fragen. Deshalb will sie Europa weiter aufrüsten und eine eigene Interventionseinheit für weltweite Kriegseinsätze aufbauen. Das beunruhigt mich, und ich hoffe, dass nach der Bundestagswahl in drei Wochen eine solche Politik nicht fortgesetzt werden kann. Frau Kramp-Karrenbauer nannte das Ende des Krieges in Afghanistan eine „schwere Niederlage“. Für die Friedensbewegung erfüllt sich damit aber eine alte Forderung. Wir begrüßen das Ende eines Krieges, der von unzähligen Kriegsverbrechen geprägt war. Aber die aktuelle Situation in Afghanistan zeigt uns einmal mehr: Krieg löst keine Probleme, er schafft nur immer neue.

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Zeit der großen Massendemonstrationen der Friedensbewegung ist vorbei. Das heißt aber nicht, dass es keine Friedensbewegung mehr gibt. Vielerorts werden von lokalen und regionalen Initiativen und von Gewerkschaften Veranstaltungen durchgeführt, sei es gegen Kriegseinsätze, sei es gegen die Rüstungsindustrie. Mit einer von der VVN/BdA initiierten Kampagne gab es im ganzen Land Veranstaltungen zum Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion. Auch die Beteiligung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier an der Gedenkfeier der Gedenkstätte Lager Sandbostel hat die Auseinandersetzung mit diesem Thema in die Öffentlichkeit gebracht. Das Bündnis „Unteilbar“ hat es geschafft, die Aktivitäten gegen die drängendsten Probleme unserer Gesellschaft zusammenzufassen, das hat die große Demonstration in Berlin gestern wieder gezeigt. Damit öffnen sich auch neue Perspektiven für die Friedensbewegung. Heute wird um das Atomwaffenlager in Büchel eine Menschenkette gebildet, an der sich auch Mitglieder unserer Initiative 8. Mai beteiligen. Ich sende herzliche Grüße nach Büchel und wünsche der Aktion viel Erfolg.

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Carl von Ossietzky war ein kompromissloser Pazifist. Ich bin mir deshalb sicher, dass unsere Forderungen heute auch seine wären:

Sofortige Abrüstung!

Abzug aller Atomwaffen und Ratifizierung des Atomwaffenverbotsvertrags!

Frieden mit Russland und China!

Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!