Die älteste Antifaschistin Lüneburgs hat am 17. April Geburtstag
19. April 2021
Was für ein Leben – Wir gratulieren unserer Freundin Sonja Barthel zum 104. Geburtstag
Am selben 17. April 1917, als Wladimir Lenin im fernen Petrograd die sogenannten April-Thesen vortrug (Errichtung einer Republik auf Basis der Sowjets) und in Stockholm sich deutsche Sozialdemokraten mit Mitgliedern des russischen Arbeiterrates trafen, um über die Beendigung des Krieges zu beraten, wurde in der Berliner Teutonenstraße eine kleines Mädchen geboren. Ihre Eltern gaben ihr einen seinerzeit recht ungewöhn-lichen Namen, einen russischen. Nicht ohne Grund, denn beide (Vater aus deutsch-nationalem Beamten-Elternhaus, Mutter aus dem jüdischen Besitzbürgertum) lebten für die sozialistische Idee, hofften auf den Sieg der russischen Revolution und auf eine baldige Beendigung des 1. Weltkrieges. „Sonja“ wurde das kleine Wesen benannt, „die Wissende und Weise“, „die Träumerin“, „die für die Wahrheit Kämpfende“.
Vielleicht auch ein Omen für ihren späteren Lebensweg:
Den Leitspruch der Aufklärung „Wissen ist Macht“ machte sie sich zu eigen, schon als Au-Pair-Mädchen in England während der 1930er-Jahre, später im Pädagogik- Studium in der DDR und anschließend in Lüneburg ab 1953 und sie lernte mehrere Fremdsprachen (darunter Esparanto). Eine „Träumerin“ war sie ihr Leben lang, nämlich träumend von einer besseren Welt ohne Krieg, Ungerechtigkeit und Armut. Und sie versuchte, ihre Träume Realität werden zu lassen wie etwa 1936 in London, als sie in einem Rekrutierungsbüro vorstellig wurde in der Absicht, nach Spanien zu gehen, um die dort gegen Franco kämpfenden Antifaschisten/-innen tatkräftig zu unterstützen. Und auch für die Wahrheit kämpfte sie ihr Leben lang, als Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes schon ab 1949 und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ab 1954 (als sie in den Schuldienst eintrat), auch der SPD und später in der Lüneburger Geschichtswerkstatt.
Aus der SPD trat sie 1999 wieder aus, als diese Partei den Krieg gegen Jugoslawien unterstützte, was mit ihrer antifaschistischen Haltung nicht zu vereinbaren war. Neben diesen charakteristischen Eigenschaften besaß Sonja noch was, nämlich jede Menge „Massel“. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie als „Halbjüdin“ den Nazis immer wieder ein Schnippchen schlagen konnte und das dazugehörige (riesige) Quäntchen Glück hatte, um 1939/40 unentdeckt im Frankfurter Hochhaus der (ausgerechnet !) IG-Farben zu arbeiten, anschließend bei dieser Firma in Belgien und dann noch in Berlin die Gestapo-Vorladungen zu überstehen.
Sonjas zweites Leben begann mit der Befreiung im Mai 1945, Pädagogik-Studium und Lehrtätigkeit in Berlin, Umzug nach Lüneburg Ende 1952 – der Liebe wegen. Hier nochmaliges Studium (ihre DDR-Qualifikation wurde nicht anerkannt) an der provisorischen PH, nebenbei dort Gründung des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ SDS, Arbeit an einer zweiklassigen Volksschule in Lüneburg – Ochtmissen, bis sie 1959 endlich ihre 2. Lehramtsprüfung abgelegen durfte und anschließend in Lüneburg-Goseburg, dann an der Lüner Schule unterrichtete. Fünf Jahre später wurde sie – für 10 Jahre – „Ratsherrin“, Mitglied des Rates der Stadt Lüneburg. Ihr besonderes Interesse und ihr Engagement für die Spracherwerbs- probleme ihrer Schulkinder führte sie zur Sonderschule L (für lernbehinderte Kinder). Nun wurde sie im Alter von 55 Jahren erneut Studentin (Ausbildung zur Lehrerin im Bereich Sonderpädagogik- Sprachheilpädagogik), unterrichtete anschließend viele Jahre eine Sprachheilklasse und wurde nach Einführung der Sonderschule G (für geistig behinderte Kinder) deren Konrektorin (mit 61 Jahren!), wohin sie wegen ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit der Einrichtung der Lüneburger „Lebenshilfe“ berufen wurde.