Der fatale Zustand der amerikanischen Gesellschaft und Politik
6. November 2020
Die aktuelle Entwicklung der USA ist eine Gefahr für die internationale Stabilität. Die Tatsache, dass auch drei Tage nach den Wahlen zum neuen Präsidenten noch keine gesicherten Wahlergebnisse vorliegen, ist ein „Armutszeugnis“ des amerikanischen Modells. Die Selbstausrufung eines „Siegers“ vor Abschluss der Auszählungen, die angekündigten juristischen Schritte gegen die Auszählung von Wählerstimmen, die Ausschließung ganzer Gruppen der Bevölkerung aus den Wählerlisten – insbesondere, wenn sie arm und nicht-weiß sind -, all das sind Zeichen einer zerstörten demokratischen Kultur.
Die amerikanische Gesellschaft erweist sich in diesen Tagen als tief gespalten, was durch die Politiker und Medien, die von bürgerkriegsähnlichen Zuständen fantasierten, in unvorstellbarem Maße forciert wurde. Man hatte in den letzten Tagen manchmal den Eindruck, die Medien reagierten enttäuscht, dass ihre Prognosen eines Bürgerkrieges nicht Wirklichkeit geworden sind.
Diese Auseinandersetzungen bei der Präsidentschaftswahl sind Ausdruck einer großen innenpolitischen Krise des Landes, die nicht durch den jeweiligen Präsidenten, sondern durch die gegenwärtige amerikanische Wirklichkeit geprägt ist.
Die Corona-Pandemie hat die Probleme der amerikanischen Gesundheitsversorgung offenbart. Es gibt großartige medizinische Einrichtungen und gleichzeitig Millionen Bürger, die aufgrund ihrer Armut keinen Zugang zu diesem Gesundheitssystem haben. Die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit für viele Menschen hat in der gegenwärtigen Krise enorm zugenommen. Obwohl viele von ihnen mehr als einen Job ausüben, ist ihre finanzielle Lage zunehmend gefährdet.
Verbunden mit den sozialen Problemen verschärfen sich der alltägliche Rassismus und die gewalttätigen Übergriffe der – überwiegend weißen – Polizei. Es vergeht in den USA kein Tag, an dem nicht mindestens ein Bürger – zumeist Farbige oder Migranten – bei einem Polizeieinsatz getötet wird. Im Wahlkampf selber wurde die rassistische Hetze gegen farbige Gegenkandidaten bewusst eingesetzt. Das schlimmste Beispiel lieferte Präsident Trump in Greenville (North Carolina), wo er die in Somalia geborene Ilhan Omar, Abgeordnete der Demokraten im US-Repräsentantenhaus und Muslimin, vor einer brüllenden Menge zum Verlassen der USA aufforderte. Hier zeigten sich zudem Antifeminismus und evangelikale Intoleranz. Zurecht demonstrierten am Wahlabend in Washington D.C. Aktivisten der Black Lives Matter – Bewegung, um auf dieses Problem vor der internationalen Medien aufmerksam zu machen.
Die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft hat nicht nur innerpolitische Konsequenzen. Sie zeigt sich auch im Auftreten der USA auf internationaler Ebene. Es geht nicht mehr um zwischenstaatliche Abstimmungsprozesse, sondern allein um die Durchsetzung der eigenen Machtansprüche. Die verheerenden Resultate sind im Ausstieg der USA aus der WHO, der Klimaschutz-Konvention und den Rüstungsbegrenzungsverträgen mit Russland zu finden. Obwohl sich über 90 % aller Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Sanktionen gegen Kuba verurteilt haben, verschärfen die USA diese Maßnahmen zu Lasten der kubanischen Bevölkerung.
Wir erleben militärisches Eingreifen in allen Teilen der Welt, ungeachtet des Völkerrechts. Gleichzeitig versuchte die amerikanische Regierung in den vergangenen Jahren ihre wirtschaftlichen Interessen mit machtpolitischen Mitteln durchzusetzen, wie die Sanktionen gegen die chinesische Internetplattform TikTok und den Netzbetreiber Huawei sowie gegen die an der Gas-Pipeline North Stream II beteiligten europäischen Unternehmen zeigen.
Nach den bisherigen Ankündigungen beider Präsidentschaftskandidaten soll sich diese Politik auch in Zukunft nicht ändern. Daher verfolgen wir die Entscheidung über die Wahl des zukünftigen amerikanischen Präsidenten mit Sorge, aber ohne Parteinahme für einen der beiden Kandidaten.