Engerhafe war das Schlimmste
5. Februar 2019
„Engerhafe war das Schlimmste“
Ein Artikel in der letzten RB-Ausgabe über eine Dissertation
von Binaca Roitsch, die das Verhalten der Bevölkerung in der
Umgebung von Konzentrationslagern beschreibt, machte uns
sehr betroffen und wir stellten uns die Frage, wie nach 1945
mit dem Wissen über die Grausamkeiten umgegangen wurde.
Roitsch berichtet von enormen wirtschaftlichen Aufschwüngen für Handwerker und ihre Beschäftigten und andere Zu-
lieferer u. a. in Bergen-Belsen durch Errichtung der Lager und
vom widerstandslosen Hinnehmen des Elends in den Lagern,
weil dort ja „Untermenschen“ hausten.
Nach dem Krieg war es in der Bevölkerung meist üblich, sich
unwissend zu stellen, zu rechtfertigen oder zu versuchen, sich
als Opfer zu fühlen.
Dagegen gab und gibt es überall viele Aktionen, nachträglich
etwas wieder gut zu machen durch Aktionen und ein würdi-
ges Gedenken.
So wird im ostfriesischen Engerhafe seit vielen Jahren der
188 Gefangenen gedacht, die dort im Außenlager des KZ Neu-
engamme unter schrecklichen hygienischen Umständen ums
Leben kamen.
Das Lager war 1942 für 400 Niederländer errichtet worden,
die beim Bunkerbau im nahen Emden eingesetzt waren.
Ab Oktober 1944 wurde das Lager mit 2000 überwiegend po-
litischen Gefangenen aus ganz Europa belegt. Die Gefangenen
mussten täglich zu Fuß einige Kilometer zum Bahnhof mar-
schieren und wurden dann in Viehwaggons nach Aurich trans-
portiert. Dort bauten sie am sogenannten Friesenwall, einem
5 Meter breiten und 3 Meter tiefen Panzergraben, der die zur
Festung erklärten Stadt sichern sollte. In den nur 2 Monaten bis
zur Auflösung des Lagers starben mindestens 188 Gefangene.
1946 nahm sich die VVN der Gräber an, später identifizierte
man nahezu alle Leichen und bestattete sie in Einzelgräbern.
Der Lagerleiter wurde erst 1972 zu einer mehrjährigen Haft-
strafe verurteilt, allerdings wegen seiner Verbrechen im KZ
Sachsenhausen.
Seit 1990 gibt es ein Mahnmal auf dem Engerhafer Friedhof
und seit 2009 einen gemeinnützigen Verein, der viele Recher-
chen betreibt und regelmäßige Kundgebungen veranstaltet.
Auf einer solchen sprach auch der letzte bis dahin lebende
und 2013 verstorbene Häftling, Donald Bamberg. Er war in
verschiedenen KZs gewesen und beklagte, dass „Engerhafe
das Schlimmste“ für ihn gewesen war.
Nach neueren Recherchen hat das Lagerleben viel mehr
Tote gefordert als bisher angenommen: Auf der Rücktour
nach Neuengamme und auch dort sind viele an Entkräftung
verstorben.
Aber auch die Lebensbedingungen im Lager waren uner-
träglich, Betten waren meist dreifach belegt, eine Heizung und
Toiletten gab es nicht, nur einen kleinen Waschraum für alle.
Viele Menschen lagen ständig in ihren eigenen Exkrementen
und es muss wohl ein unerträglicher Gestank über dem Lager
in dem kleinen Dorf gehangen haben.
In einer Podiumsdiskussion mit sechs Zeitzeugen von 2012,
die auch auf der Vereins-Homepage wiedergegeben wird, be-
richten Dorfbewohner, damals Kinder, dass sie „Angst vor den
Gestalten“ hatten und bei deren Anblick schnell flüchteten.
Ein Zeitzeuge erzählt, dass er einiges vom Lagerleben heim-
lich gesehen hat, wenn er seine Kaninchen hinter dem Haus
fütterte. Der Lehrer drohte Schülern damit, auch im Lager zu
landen, wenn sie nicht gefügig wären.
„Was wir heute hören, das ist erlebt, später gibt es als Er-
innerungen nur noch Papier“, sagt der Moderator und „um
sicher zu fahren, brauchen wir einen Rückspiegel“, also den
Überblick und das Wissen, um nicht wieder in eine neue Ka-
tastrophe zu fahren.
Die Zeitzeugen erinnern sich alle sehr emotional, Tränen un-
terbrechen oft den Redefluss, aber aus allen ihren Worten hört
man die kindliche Ohnmacht und auch die Anklage, dass ihr
erwachsenes Umfeld damals nur sehr vorsichtig seine mensch-
lichen Regungen zeigen konnte.
Bei den Schilderungen der gesehenen Grausamkeiten, die
unsere Vorstellungskraft heute übersteigt, fallen einige immer
wieder in die Sprache ihrer Kindheit, ins Plattdeutsche, zurück.
Die obigen Recherchen von Frau Roitsch betreffen die Be-
völkerung in der Nähe von größeren Lagern. Diejenigen, die
positiven Nutzen aus deren Existenzen zogen, haben sie als
gegeben hingenommen oder geduldet und wenig hinterfragt,
von Ausnahmen abgesehen.
Aber die Menschen, die unmittelbar das Lagerleben beob-
achteten und keinen finanziellen Nutzen davon hatten, waren
sie nur die, die Mitleid hatten, weil sie entweder Kinder waren
oder eingeschüchtert oder mitten im Krieg durch Nichtstun
oder Duldung nur noch ihre eigene Haut retten wollten?
Weil uns diese Fragen weiterhin beschäftigen, werden wir
Kontakte zu Frau Roitsch herstellen und sie zu einem DFV-
Seminar in Heideruh einladen.
Berend Buscher
Hermann Bertus
Ostfriesland
Empfehlenswerte Quellen, auch bebildert:
• WIKIPEDIA „KZ Engerhafe“
• ND vom 5.7.2018 „Sonntagsausflüge…“, S.14
• Bianca Roitsch, Mehr als nur Zaungäste
• www.gedenkstaette-kz-engerhafe.de
Quelle: Deutscher Freidenker-Verband, Rundbrief 1/19 http://www.dfv-nord.de/images/rundbrief/rb201901.pdf